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Rede von Olaf Scholz anlässlich der 77. Generaldebatte der Generalversammlung der Vereinten Nationen

Quelle: diplo.de (Englisch)

Mit Demut und tiefem Respekt wende ich mich heute an Sie - sowohl als neu gewählter Bundeskanzler Deutschlands als auch als stolzer Delegierter bei unseren Vereinten Nationen.

Mein Land und die Vereinten Nationen sind untrennbar miteinander verbunden.

Das demokratische und wiedervereinigte Deutschland von heute verdankt seine Rolle auf der Weltbühne Ihnen, unseren internationalen Freunden und Partnern.

Sie haben uns Ihr Vertrauen geschenkt, ein friedliebendes Mitglied der Völkergemeinschaft zu werden und zu bleiben.

Wir wissen, dass wir unsere Freiheit, unsere Stabilität und unseren Wohlstand einer internationalen Ordnung verdanken, in deren Zentrum die Vereinten Nationen stehen.

Deshalb wird das Engagement meines Landes für diese Organisation und ihre hehren Ziele - Frieden, Entwicklung sowie gleiche Rechte und Würde für alle Menschen - niemals nachlassen.

Leider bringe ich dieses Engagement in einer Zeit zum Ausdruck, in der wir uns von diesen hehren Zielen immer weiter entfernen.

Nach Jahrzehnten, in denen wir Mauern und Blöcke überwunden haben - einer Zeit, in der wir den Fall des Eisernen Vorhangs und die deutsche Wiedervereinigung feierten -

nach der technologischen Revolution des Internets und der digitalen Transformation, die uns mehr denn je miteinander verbunden haben, stehen wir nun vor einer neuen Fragmentierung der Welt.

Neue Kriege und Konflikte sind entstanden. Die großen globalen Krisen türmen sich vor uns auf und verbinden und verstärken sich gegenseitig.

Manche haben dies sogar als Vorbote einer Welt ohne Regeln gesehen.

Es stimmt, dass die Risiken für unsere globale Ordnung real sind.

Und doch halte ich nichts von dem Bild einer Welt ohne Regeln - aus zwei Gründen:

Erstens: Unsere Welt hat klare Regeln.

Regeln, die wir, die Vereinten Nationen, gemeinsam geschaffen haben.

Diese Charta verspricht uns allen Freiheit und friedliche Koexistenz.

Diese Charta ist unsere kollektive Absage an eine Welt ohne Regeln.

Unser Problem ist nicht das Fehlen von Regeln. Unser Problem ist die mangelnde Bereitschaft, sie einzuhalten und durchzusetzen.

Aber die Vorstellung von einer Welt ohne Regeln führt uns noch aus einem zweiten Grund in die Irre.

Wenn wir unsere globale Ordnung nicht gemeinsam verteidigen, weiterentwickeln und stärken, dann haben wir es nicht mit einem Chaos ohne Regeln zu tun,

sondern eine Welt, in der die Regeln von denen gemacht werden, die sie uns aufgrund ihrer militärischen, wirtschaftlichen oder politischen Macht diktieren können.

Die Alternative zu einer regelbasierten Welt ist nicht Anarchie, sondern die Herrschaft der Starken über die Schwachen.

Der großen Mehrheit von uns kann es nicht gleichgültig sein, ob die Herrschaft der Macht oder die Macht der Regeln die Oberhand gewinnt.

Die Schlüsselfrage, vor der wir als internationale Gemeinschaft stehen, ist folgende: Sollen wir hilflos zusehen, wie einige versuchen, uns in eine globale Ordnung zurückzuwerfen, in der Krieg ein gängiges Instrument der Politik ist;

in der unabhängige Nationen sich ihren stärkeren Nachbarn oder ihren Kolonialherren unterordnen müssen;

in der Wohlstand und Menschenrechte ein Privileg der wenigen Glücklichen sind?

Oder schaffen wir es, zusammenzustehen und dafür zu sorgen, dass die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts eine multilaterale Welt bleibt?

Meine Antwort als Deutscher und Europäer lautet: Wir müssen das schaffen.

Und wir werden es schaffen, wenn wir uns drei Grundprinzipien zu Herzen nehmen.

Erstens: Die internationale Ordnung ergibt sich nicht von selbst. Wenn wir nichts tun, dann ist diese Charta nur ein Stück Papier.

Diese Charta fordert uns alle auf, für ihre Ziele und Grundsätze einzustehen.

Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn eine bis an die Zähne bewaffnete nukleare Großmacht - ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates noch dazu - versucht, Grenzen durch Gewaltanwendung zu verschieben.

Für den russischen Besatzungskrieg gegen die Ukraine gibt es keinerlei Rechtfertigung.

Präsident Putin führt diesen Krieg mit einem einzigen Ziel: die Ukraine zu erobern.

Selbstbestimmung und politische Unabhängigkeit zählen für ihn nicht.

Dafür gibt es nur ein Wort. Das ist schlicht und ergreifend Imperialismus!

Die Rückkehr des Imperialismus ist nicht nur eine Katastrophe für Europa.

Sie ist auch eine Katastrophe für unsere globale Friedensordnung, die das Gegenteil von Imperialismus und Neokolonialismus ist.

Deshalb war es so wichtig, dass hier in diesem Saal 141 Länder den russischen Besatzungskrieg kategorisch verurteilt haben.

Aber das allein ist nicht genug!

Wenn wir wollen, dass dieser Krieg endet, dann kann es uns nicht gleichgültig sein, wie er ausgeht.

Putin wird seinen Krieg und seine imperialistischen Ambitionen erst aufgeben, wenn er erkennt, dass er nicht gewinnen kann.

Damit zerstört er nicht nur die Ukraine, sondern ruiniert auch sein eigenes Land.

Deshalb werden wir einen von Russland diktierten Frieden nicht akzeptieren - und auch keine Scheinreferenden.

Deshalb muss die Ukraine in der Lage sein, sich gegen die russische Invasion zu verteidigen.

Wir unterstützen die Ukraine mit aller Kraft - finanziell, wirtschaftlich, mit humanitärer Hilfe, aber auch mit Waffen.

Gemeinsam mit unseren Partnern in aller Welt haben wir harte Wirtschaftssanktionen gegen die russische Führung und die russische Wirtschaft verhängt.

Damit lösen wir ein Versprechen ein, das jedes einzelne unserer Länder bei seinem Beitritt zu den Vereinten Nationen gegeben hat, nämlich mit vereinten Kräften "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren".

Und noch etwas möchte ich hinzufügen: Kein einziger Sack Getreide wurde aufgrund dieser Sanktionen zurückgehalten.

Russland allein hat ukrainische Getreideschiffe am Auslaufen gehindert, Häfen bombardiert und landwirtschaftliche Unternehmen zerstört.

"Wo Hunger herrscht, kann es keinen Frieden geben".

Das sagte mein Vorgänger, der Friedensnobelpreisträger Willy Brandt, als er 1973 als erster Bundeskanzler vor dieser Versammlung sprach.

Heute erleben wir, dass dieser Satz auch andersherum gilt.

Wer will, dass es keinen Hunger gibt, muss dafür sorgen, dass Putins Krieg sich nicht durchsetzt - dieser Krieg, der auch in Ländern weit weg von Russland zu steigenden Preisen, Energieknappheit und Hungersnot führt.

Dass der Getreideexport dank der Vermittlungsbemühungen von Generalsekretär Guterres und der Türkei wieder möglich geworden ist, verdient großen Respekt.

Auch Deutschland unterstützt die Ukraine bei der Ausfuhr von Lebensmitteln.

Und wir werden der Ukraine zur Seite stehen, wenn es darum geht, die enormen Kosten für den Wiederaufbau des Landes zu schultern.

Auf einer internationalen Expertenkonferenz, die ich gemeinsam mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission am 25. Oktober in Berlin veranstalte, werden wir gemeinsam mit Unterstützern der Ukraine aus aller Welt überlegen, wie wir diese Herkulesaufgabe bewältigen können.

Unsere Botschaft lautet: Wir stehen fest an der Seite derer, die angegriffen werden.

Für den Schutz des Lebens und der Freiheit der Ukrainer.

Und für den Schutz unserer internationalen Ordnung.

Der zweite Grundsatz zur Wahrung dieser Ordnung lautet: Wir alle werden an den Verpflichtungen gemessen, die wir gemeinsam eingegangen sind.

Verantwortung beginnt immer zu Hause.

Nehmen Sie zum Beispiel den Klimawandel, der die größte Herausforderung unserer Generation ist.

Wir, die Industrieländer und großen Emittenten von Treibhausgasen, haben hier eine ganz besondere Verantwortung.

In diesem Sinne haben wir auf dem G7-Gipfel in Deutschland im Juni unsere Absicht bekräftigt, das 1,5-Grad-Ziel voranzutreiben.

Nicht trotz des Krieges und der Energiekrise, sondern gerade weil Klimaneutralität auch zu mehr Energiesicherheit führt.

Wir stehen zu unseren Zusagen, Schwellen- und Entwicklungsländer bei ihren Bemühungen um Emissionsminderung und Anpassung an den Klimawandel zu unterstützen - zum Beispiel mit neuen Partnerschaften für eine gerechte Energiewende.

Und wir werden die Länder nicht im Stich lassen, die am meisten mit den Verlusten und Schäden infolge des Klimawandels zu kämpfen haben.

Bis zur Klimakonferenz in Ägypten wollen wir deshalb einen globalen Schutzschild gegen Klimarisiken aufbauen.

Unser Maßstab müssen die Verpflichtungen sein, die wir eingegangen sind.

Nirgendwo scheint mir diese Einsicht naheliegender als beim Schutz der Menschenrechte.

Denn sie spiegeln das tiefste Bedürfnis eines jeden von uns wider, ein Leben in Freiheit, Unversehrtheit und Würde zu führen.

Das ist der Kern dessen, was uns Menschen zu dem macht, was wir sind und was wir gemeinsam haben - egal, woher wir kommen, egal, was wir glauben, egal, wen wir lieben.

Ich sage Ihnen dies vor dem Hintergrund der Geschichte meines Landes.

Deutschland, das mit der beispiellosen Ermordung von sechs Millionen Juden alle zivilisierten Werte verraten hat, weiß, wie zerbrechlich unsere Zivilisation ist.

Und gleichzeitig sind wir verpflichtet, die Menschenrechte zu jeder Zeit und an jedem Ort zu achten und zu verteidigen.

Mein Land ist der zweitgrößte Geber für das UN-System und auch der zweitgrößte Geber von humanitärer Hilfe.

Wir haben in den letzten Jahren Millionen von Flüchtlingen hier in Deutschland aufgenommen - aus dem Nahen Osten, Afrika, Afghanistan und zuletzt aus der Ukraine.

Darauf sind wir stolz.

Aber wir müssen auch dort aufpassen und handeln, wo Hunderttausende in Gefangenenlagern oder Gefängnissen Leid, Tyrannei und Folter erdulden müssen - in Nordkorea, Syrien, Iran oder Weißrussland.

Wir müssen aufhorchen und handeln, wenn die Taliban Frauen und Mädchen in Afghanistan ihrer elementarsten Rechte berauben.

Und wir müssen aufhorchen und handeln, wenn Russland in Mariupol, Bucha und Irpin Kriegsverbrechen begeht.

Wir werden die Mörder vor Gericht bringen.

Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um den Internationalen Strafgerichtshof und den vom Menschenrechtsrat eingesetzten unabhängigen internationalen Untersuchungsausschuss zu unterstützen.

Unsere gemeinsamen Institutionen zu stärken - daran sollten gerade diejenigen ein Interesse haben, die aufgrund ihrer Stärke und ihres Einflusses eine besondere Verantwortung für unsere Ordnung in der Welt tragen.

Der ehemalige Hochkommissar für Menschenrechte hat uns vor einigen Wochen über die Situation der Uiguren in Xinjiang informiert.

China sollte die Empfehlungen des Hochkommissars umsetzen.

Das wäre ein Zeichen von Souveränität und Stärke und eine Garantie für einen Wandel zum Besseren.

Ein dritter Grundsatz muss berücksichtigt werden, wenn wir die internationale Ordnung bewahren wollen.

Wir müssen unsere Regeln und Institutionen an die Realität des 21. Jahrhunderts anpassen.

Viel zu oft spiegeln diese Regeln und Institutionen die Welt von vor 30, 50 oder 70 Jahren wider.

Das gilt auch für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Deutschland setzt sich seit vielen Jahren für dessen Reform und Erweiterung ein, vor allem um die Länder des globalen Südens.

Deutschland ist auch bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen - als ständiges Mitglied und zunächst als nicht-ständiger Sitz im Jahr 2027/28.

Ich bitte Sie, unsere Kandidatur zu unterstützen - die Kandidatur eines Landes, das die Prinzipien der Vereinten Nationen respektiert und die Zusammenarbeit anbietet und sucht.

Ich halte es für ganz selbstverständlich, dass die aufstrebenden, dynamischen Länder und Regionen Asiens, Afrikas und des südlichen Amerikas eine stärkere politische Stimme auf der Weltbühne erhalten müssen.

Das ist in unser aller Interesse

denn es führt zu gemeinsamer Verantwortung und zu mehr Akzeptanz für unsere Entscheidungen.

Nationalismus und Abschottung werden die Herausforderungen unserer Zeit nicht lösen.

Mehr Zusammenarbeit, mehr Partnerschaft und mehr Engagement ist die einzig vernünftige Antwort, sei es bei der Bekämpfung des Klimawandels oder globaler Gesundheitsrisiken, bei Inflation und unterbrochenen Lieferketten oder bei unserem Umgang mit Vertreibung und Migration.

Ich sage dies aus tiefster Überzeugung.

Die Einsicht, dass Offenheit und Zusammenarbeit Frieden und Wohlstand sichern, hat die vergangenen Jahrzehnte zu den bisher glücklichsten in der Geschichte meines Landes gemacht.

Als diesjähriger G7-Präsident ist es mir daher ein zentrales Anliegen, eine neue Form der Zusammenarbeit mit den Ländern des Globalen Südens zu fördern -

eine Zusammenarbeit, die nicht nur den Anspruch erhebt, auf gleicher Augenhöhe stattzufinden, sondern bei der die Akteure auch wirklich auf Augenhöhe agieren.

Zumal diese Wettbewerbsgleichheit de facto schon lange besteht, wenn man das wachsende politische, wirtschaftliche und demografische Gewicht Asiens, Afrikas und Südamerikas berücksichtigt.

Von Anfang an haben wir unsere Ziele sehr eng mit Indonesien als Inhaber der G20-Präsidentschaft abgestimmt.

Wir haben die Länder, die den Vorsitz der Afrikanischen Union und der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten innehaben, sowie Indien und Südafrika in unsere Diskussionen als G7 einbezogen.

Daraus sind neue Modelle der globalen Zusammenarbeit entstanden, die eines gemeinsam haben, nämlich dass sie von gemeinsamer Verantwortung und gegenseitiger Solidarität geprägt sind.

Wir bekämpfen die Hungerkrise mit einer neuen Allianz für globale Ernährungssicherheit, und ich möchte Sie alle einladen, sich dieser Allianz anzuschließen.

Wir haben eine Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen ins Leben gerufen, um in den nächsten fünf Jahren gemeinsam 600 Milliarden Dollar für öffentliche und private Infrastrukturinvestitionen in der ganzen Welt zu mobilisieren.

Solche Ansätze sind Säulen, die unsere internationale Ordnung stützen.

Denn sie liefern Ergebnisse, von denen die Bürger in allen unseren Ländern profitieren und die sie von den Vereinten Nationen erwarten.

"Wir, die Völker" - nicht umsonst sind dies die ersten drei Worte unserer Charta.

Beachten Sie, dass diese Worte nicht "Wir, die Mitgliedsstaaten" oder "Wir, die Delegierten" lauten.

Wir haben eine Verpflichtung gegenüber unseren Völkern.

Wir schulden ihnen eine globale Ordnung, die es ihnen ermöglicht, in Frieden zu leben, die ihre Rechte schützt und ihnen Chancen auf Bildung, Gesundheit und Entwicklung eröffnet.

Eine solche Ordnung ergibt sich nicht von selbst.

Sie zu verteidigen, weiterzuentwickeln und zu stärken - das ist unsere Aufgabe als Vereinte Nationen.

Deutschland reicht Ihnen allen dabei die Hand zur Zusammenarbeit.