Quelle: auswaertiges-amt.de
(Voraufzeichnung am 5. Juli)
Der 24. Februar hat nicht nur unseren Kontinent, sondern auch viele unserer Gewissheiten erschüttert.
Ein Angriffskrieg im Herzen Europas, der eine Nation vernichten soll – das ist nicht ferne Vergangenheit, sondern grausames Hier und Jetzt.
Der 24. Februar unterstreicht zudem, dass Werte und Interessen keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Und dass Handel mit autokratischen Staaten eben nicht automatisch zu Demokratie führt.
Und wir haben gelernt, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich, sondern kostbar und teuer sind – dass wir sie, dass die Ukraine sie hart erkämpfen muss.
Was bedeuten diese bitteren Erkenntnisse für unsere Sicherheitspolitik, unser Wirtschaftsmodell, unsere liberale Demokratie? Welches Europa erwächst aus dem 24. Februar?
Das diskutieren Sie dieses Jahr auf dem Vigoni Forum. Ich hoffe, im Folgenden dazu vielleicht einige Ideen beitragen zu können.
Russlands Angriffskrieg schafft eine neue strategische Realität. Vor uns tut sich ein europäisches Sicherheitsumfeld auf, das für uns gefährlicher, rauer und teurer sein wird.
Das gilt ganz unmittelbar für den Krieg in der Ukraine, der noch lange dauern kann – und in dem wir der Ukraine weiter beistehen müssen.
Es gilt aber auch über diesen Krieg hinaus. Denn eine Rückkehr in die Zeit vor diesem Angriff wird es nicht geben. Es wird auf absehbare Zeit nicht um Sicherheit mit Russland, sondern um Sicherheit vor Russland gehen.
Diese neue Realität haben wir uns nicht gewünscht – aber wir können uns nicht vor ihr wegducken. Und wir sollten das auch nicht. Denn aus meiner Sicht haben die vergangenen Monate auch gezeigt:
Gemeinsam besitzen wir als EU, G7 und NATO die Stärke, in der neuen rauen Welt nicht nur zu bestehen – sondern auch den Willen, sie in unserem Sinne zu gestalten.
Mit dem Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine und Moldau haben wir Fundamente einer Europäischen Union gelegt, die ihre östlichen Nachbarn an Bord holt und für ihre Sicherheit einsteht.
Und mit dem NATO-Beitritt der EU-Mitglieder Schweden und Finnland stärken wir eine Sicherheitsarchitektur, die Nordeuropa und den ganzen Kontinent stabilisiert. Und die zeigt: Transatlantische Partnerschaft und Europäische Souveränität sind zwei Seiten einer Medaille.
Klar ist: Bei all diesen Schritten investieren wir mehr in unsere militärische Wehrhaftigkeit. Klar ist aber auch: Mehr Kampfflugzeuge, Panzer und Munition allein bringen keinen Frieden und Sicherheit.
Wir sehen in der Ukraine, wie Russland auch einen hybriden Krieg führt:
Mit Hackerangriffen, Desinformationskampagnen und einem globalen Kornkrieg, der gerade den globalen Süden trifft.
Das zeigt: Sicherheit schaffen wir im 21. Jahrhundert nur, wenn wir sie in allen ihren Dimensionen denken:
Wenn wir unsere freiheitlichen Demokratien vor Hass schützen, den Trollfabriken in soziale Netzwerke pumpen.
Wenn wir die Lieferketten unserer Unternehmen so aufstellen, dass niemand unseren Volkswirtschaften die Luft abschnüren kann.
Und wenn wir die Klimakrise bekämpfen, die weltweit Konflikte befeuert und mit Dürren, Hitze und steigenden Meeresspiegeln unsere Lebensgrundlagen bedroht.
Lieber Luigi di Maio,
ich freue mich sehr, dass Deutschland und Italien bei all diesen Herausforderungen immer enger zusammenarbeiten.
Mit nur wenigen Kolleginnen und Kollegen stehe ich in so engem Austausch wie mit Dir: Seit Jahresbeginn – das habe ich genau gezählt – durfte ich Dich schon fünfmal in Deutschland zu bilateralen und multilateralen Treffen begrüßen – und eine meiner ersten Auslandsreisen hat mich im Januar ganz bewusst nach Rom geführt.
Mit dem bilateralen Aktionsplan, den unsere Ministerien gerade finalisieren, werden wir die Kooperation unserer Länder sehr bald auf eine neue Stufe heben – etwa bei der Digitalisierung, der Energiepolitik und dem Jugendaustausch.
Dabei profitieren wir davon, wie eng Deutschland und Italien auch jenseits von Hauptstädten und Ministerien bereits verwoben sind:
Dank der tausenden Unternehmen, die unsere Wirtschaften vernetzen. Dank hunderter kommunaler Partnerschaften, die unsere Menschen zusammenbringen. Und auch dank der Villa Vigoni, mit ihrem einmaligen Netzwerk und Programm aus Seminaren und Publikationen.
Die Villa ist zu einer echten Marke für deutsch-italienischen und europäischen Dialog geworden – und ich würde mich freuen, wenn Sie diese Marke noch stärker vom Comer See in die breite Öffentlichkeit tragen.
Denn in Zeiten großer Umbrüche kommt es darauf an, dass Wissenschaft und Zivilgesellschaft so viel wie möglich zur Debatte über die Zukunft unseres Kontinents beitragen.
Nur so werden wir eines auch langfristig im Bewusstsein unserer Gesellschaften verankern: Demokratie und Freiheit fallen nicht vom Himmel, es gibt sie nicht umsonst. Wir müssen für sie einstehen, sie verteidigen – tagtäglich.
Dieser Kampf aber ist entscheidend.
Denn wie es Benedetto Croce einmal geschrieben hat: „Die Freiheit ist das einzige Lebensgesetz des Menschen auf Erden, und ohne sie würde das Leben nicht lebenswert sein.“