Quelle: auswaertiges-amt.de
Als ich erfahren habe, wen wir heute hier auszeichnen, habe ich mich an einen Moment Anfang dieses Jahres erinnert. An einem kalten Januarmorgen stand ich erstmalig als deutsche Außenministerin in Kiew. Und der erste Besuch – und das war ganz bewusst so gewählt – war der Besuch im Hauptsitz der OSZE-Sonderbeobachtermission.
Denn obwohl wir nicht wussten, was in den Folgemonaten passieren würde, war klar, wie wichtig diese OSZE-Mission war. All die Berichte und Erfahrungen, die Sie in diesen Monaten an uns sandten, hatten bereits deutlich gemacht, in was für einer fragilen, in was für einer gefährlichen Lage auch unsere Beobachterinnen und Beobachter vor Ort waren.
Und es freut mich wirklich sehr, dass heute Herr Hulde hier ist. Denn Herr Hulde war derjenige, der dort damals unser Gespräch mit den Beobachterinnen und Beobachtern geführt hat. Und natürlich ging es dabei ganz intensiv um die damalige Situation. Sie mussten dann abziehen. Eine Kollegin von Ihnen hat ihr Leben gelassen.
Und wir stehen jetzt, 120 Tage nach dem Angriffskrieg in der Ukraine, vor einer Situation, in der wir überhaupt nicht wissen, wann jemals Beobachterinnen und Beobachter der OSZE zurückkommen können. Das zeigt auf dramatische Art und Weise, wie schwierig nicht nur Ihre Missionen sind, sondern was das immer wieder auch für Abwägung in Einzelfällen bedeutet. Wie lange kann die Mission vor Ort bleiben? Wann sollte man abziehen?
Wir drei Ministerinnen haben genau eine solche Situation gehabt, als wir darüber berieten: Wie lange bleibt unsere deutsche Botschaft vor Ort? Was bedeutet das für die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die vor Ort sind? Und es unterstreicht nochmals, dass im Nachhinein immer alle wissen, wie es hätte sein müssen. Aber in dem Moment der Entscheidung ist das Allerwichtigste nicht nur, dass Politikerinnen und Politiker Entscheidungen treffen – sondern dass wir hören, was Menschen wie Sie vor Ort tagtäglich erleben.
Und deswegen sind wir heute hier nicht nur, um Sie auszuzeichnen, Ihnen zu danken. Sondern um zu unterstreichen, wie wichtig, wie gefährlich, aber wie bedeutsam Ihre Arbeit vor Ort ist. Und das bedeutet, dass wir diese Arbeit ausbauen wollen. Gemeinsam mit unseren transatlantischen Partnern investieren wir bekanntermaßen in die Ausrüstung der Bundeswehr, in unsere Sicherheit. Aber die Situation in der Ukraine unterstreicht: Militärische Investitionen und zugleich zivile Mittel – das ist kein Gegensatz!
Wir haben eine Diskussion erlebt: 100 Milliarden mehr für die Bundeswehr, heißt das jetzt entsprechend weniger für Ziviles? Nein, ganz im Gegenteil. Denn militärisches Engagement und ziviler Einsatz – das ist kein Entweder-oder. Es funktioniert nur Hand in Hand. Und es muss sich immer ergänzen. Ja, die Ukraine, braucht schwere Waffen. Panzerhaubitzen und Raketenwerfer haben wir gerade geliefert. Aber sie braucht auch Nahrungsmittel, humanitäre Hilfe, Krankenhäuser und Wasserversorgung. Und zwar langfristig, gerade wenn hoffentlich der Krieg endlich beendet ist. Genau dann braucht es zivile Infrastruktur umso mehr.
Und Frieden schaffen – was ja eine deutsche Übersetzung von „Peacekeeping“ ist – bleibt auch in diesem Moment, wo wir Waffen liefern, unser oberstes Ziel. Aber Frieden schaffen ist etwas anderes als in Frieden leben. Das erleben wir gerade auf dramatische Art und Weise. Denn: In Frieden leben, Sicherheit und Freiheit – das bedeutet mehr als die Abwesenheit von Krieg. Deswegen können wir keinen Diktatfrieden in der Ukraine akzeptieren. Und deswegen sind auch die vielen Einsätze, die Nancy Faeser bereits angesprochen hat, an so vielen Orten dieser Welt so wichtig.
Denn Freiheit und Sicherheit, und das Selbstverständnis: „Wir kommen hier einfach mit Fahrrad oder Auto angefahren und denken: Was für schönes Wetter!“ So viele Menschen auf der Welt haben das nicht. Sei es in Mali, in Afghanistan, in Syrien – da fahren Menschen nicht einfach so mit dem Fahrrad los. Sondern jede Sekunde müssen sie dabei denken: „Vielleicht werde ich erschossen?“ Oder wenn sie Journalisten, Lehrer, Krankenschwestern sind: „Werde ich vielleicht vom Rad entführt und in ein Gefängnis eingesperrt?“
Niemand weiß das besser als Sie, liebe Peacekeeperinnen und Peacekeeper. Und deswegen sind wir heute hier. Herr Hulde, Frau Valier, Frau Arnold – die ich nachher ehren darf. Sie wissen, dass Sicherheit für Menschen in Krisenregionen viele Dimensionen hat. Und dass zivile Friedenseinsätze keine Schönwetter-Instrumente sind, sondern essenzieller Bestandteil von harter Sicherheitspolitik. Sicherheit bedeutet, dass Väter, Mütter, Kinder, Großeltern einfach so zur Arbeit fahren können, dass sie Nahrung kaufen können, ohne dabei erschossen zu werden.
Herr Hulde, Sie waren jahrelang im Donbas, direkt an der Frontlinie zwischen den Separatistinnen und Separatisten und den ukrainischen Truppen. Sie und Ihre Kollegen haben dazu beigetragen, dass Menschen dort überhaupt über die Kontaktlinie gehen konnten. Und dass sie dabei nicht stundenlang warten mussten in Eiseskälte, im Sommer in der Hitze. Manchmal sind Sie tief in der Nacht auf einer Straße im Niemandsland steckengeblieben, zwischen den Separatisten und ukrainischen Truppen, und wurden dabei beschossen.
Ihre Arbeit war ein kleiner Funke Hoffnung. Weil Sie als Vertreterinnen und Vertreter der internationalen Gemeinschaft ein Auge und ein Ohr vor Ort hatten. Es war die OSZE-Beobachtermission, der wir es verdanken, dass für eine Zeit lang die Übergänge an der Kontaktlinie überhaupt gesichert werden konnten. Und ich weiß – weil wir viele Gespräche geführt haben – dass Sie auch mit gemischten Gefühlen auf diese Zeit zurückschauen. Denn der russische Angriffskrieg hat diese kleinen Erfolge kaputt gemacht – und der Frieden scheint weiter weg denn je zuvor.
Gerade in diesen Tagen, wenn es schwierig wird, oder auch mit Blick auf Mali und den Untersuchungsausschuss Afghanistan – da kann man schnell zu einer Haltung kommen: „Dann lassen wir es halt in Zukunft sein. Hat ja nichts gebracht mit der OSZE-Mission. Was hat das denn gebracht, wenn wir all die Jahre vor Ort waren?“ Man kann leicht in diesen Sarkasmus und Zynismus reinkippen.
Ich glaube, das Wichtigste ist – und das wissen Sie besser als wir hier in Berlin: Wir sollten uns jeden Tag vergegenwärtigen, dass wenn wir ein Menschenleben retten können, wenn wir über 20 Jahre Jugendlichen ermöglichen können, überhaupt zur Schule zu gehen – dann war das niemals vergeben. Sondern wir – und Sie stellvertretend für uns, für die internationale Gemeinschaft, für die Bundesrepublik Deutschland – haben damit vielen Menschen ein Stück Leben, ein Stück Alltag ermöglicht. Und 20 Jahre, zwei Jahre, manchmal auch nur zwei Wochen ist mehr als gar nichts. Dafür unser allerherzlichster Dank!
Freiheit und Sicherheit – das umfasst nicht nur die Sicherheit, nicht erschossen zu werden. Sondern es betrifft sehr viele Bereiche. Frau Valier wird in Zukunft an einem dieser Bereiche mitwirken – und das freut mich sehr. Sie wird nach Kiew zurückkehren und unterstützen bei der Aufklärung von russischen Kriegsverbrechen. Denn mit Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit wollen wir dafür sorgen, dass Verbrechen auch zur Anklage gebracht werden. Wir zeichnen heute auch Sabine Arnold aus. Sie beraten Justizbehörden im Südsudan, um bei der Aufklärung von Verbrechen an Frauen und Mädchen mitzuhelfen. In einem Land – und es ist wichtig, uns das zu vergegenwärtigen – in dem jede zweite Frau vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet wird. Mit Klartext muss man sagen: Das sind keine Frauen, es sind 17-jährige, 16-jährige, manchmal 14-jährige Mädchen. Das ist keine Hochzeit, das ist tagtägliche Vergewaltigung. Und wenn wir dazu beitragen, dass diese Verbrechen zur Anklage kommen, dann tragen wir dazu bei, dass Mädchen, dass Jugendliche ein Stück Hoffnung haben: eben in ihrem 16., 17., 18. oder auch 21. Lebensjahr in Freiheit und Sicherheit leben zu können.
Das Schöne am Peacekeeping sind dabei pragmatische Ansätze – Ideen, auf die glaube ich hier niemanden kommen würde. Bei der Arbeit von Sabine Arnold wurde zum Beispiel ein mobiler Gerichtshof geschaffen, der im Norden des Landes mit 30 Personen – Richtern, Staatsanwälten und Menschenrechtsverteidigerinnen – zu den Menschen kommt, um überhaupt Gerichtsprozesse durchführen zu können. Das macht deutlich: Auch in den schwierigsten Ländern schauen wir nicht weg, sondern versuchen, zu einem kleinen Stück Gerechtigkeit beizutragen.
Und all diese Beispiele machen deutlich, was Peacekeeping bedeutet. Es bedeutet, Sicherheit im 21. Jahrhundert zu schaffen in all ihren Dimensionen. Sicherheit, die mehr ist als die Abwesenheit von Gewalt. Sicherheit, die Rechtsstaatlichkeit und Freiheit bedeutet. Aber auch Sicherheit zur Sicherung unserer Lebensgrundlagen. Denn wir erleben, dass ein Krieg mit Nahrungsmitteln geführt werden kann. Oder dass menschliche Sicherheit durch die Auswirkungen der Klimakrise nicht nur bedroht, sondern in ihren Fundamenten erschüttert wird.
Um daran gemeinsam zu arbeiten, werden wir als Bundesregierung eine nationale Sicherheitsstrategie auf den Weg bringen. Das Auswärtige Amt koordiniert das. Alle Ressorts leisten dazu einen Beitrag. Das Innenministerium bei der Frage: Wie können wir mehr Bundespolizisten und Polizeibeamte in Einsätze schicken? Das Landwirtschaftsministerium bei der Frage: Wie sichern wir Zugänge zu Lebensmitteln? Und natürlich bearbeiten wir den Kernbestandteil dessen, was Ihre Arbeit seit 20 Jahren im ZIF – und da feiern wir heute auch noch Geburtstag – ausmacht: Peacekeeping auf Dauer anzulegen.
Sie stehen für mehr als 2300 deutsche Friedenskräfte, die weltweit im Einsatz sind. Sie stehen dafür, dass Tausende von Menschen tagtäglich den Selbstverständlichkeiten, die wir genießen – einfach in Freiheit unser Leben leben zu können – ein Stück näher treten können. Sie sind das Gesicht der deutschen Außenpolitik – und dafür unser aller herzlicher Dank.