Quelle: mid.ru
Sehr geehrte Kollegen,
gestern am Abend und heute am Morgen kamen viele Medienfragen über unsere Reaktion auf präzedenzlose Beschlüsse, die von einigen Mitgliedern der Nato getroffen wurden. Sie verhinderten den Besuch des Außenministers Russlands in die Republik Serbien.
Es passierte Undenkbares. Ich verstehe das Interesse an unserer Einschätzung dieser eklatanten Handlungen. Einem souveränen Staat wurde das Recht auf die Ausübung der Außenpolitik weggenommen. Zu diesem Zeitpunkt ist die internationale Tätigkeit Serbiens, zumindest in der russischen Richtung, blockiert.
Wir werden nicht herumgehen. Das ist ein weiteres anschauliches und belehrendes Zeichen davon, wie weit die Nato und die EU beim Einsatz der gemeinen Mittel zum Einfluss auf jene, die sich nach nationalen Interessen richten und nicht bereit sind, eigene Prinzipien, Würde zugunsten der „Regeln“ zu opfern, die vom Westen statt dem Völkerrecht aufgedrängt wurden, gehen können. Wenn der Besuch des Außenministers Russlands in Serbien im Westen beinahe als Bedrohung eines globalen Ausmaßes wahrgenommen wird, geht es dort wohl ganz schlecht.
In der letzten Zeit ist das „Geschrei“ über die Notwendigkeit für Serbien zu hören, „eine endgültige Wahl“ zu treffen. Gestern sagte der ehemalige Premierminister und Außenminister Schwedens Carl Bildt lautstark: Das Schlimmste, was Serbien für die Förderung seiner Europerspektive machen kann, ist den Außenminister Russlands in Belgrad zu empfangen. Wie gefällt das ihnen? Der US-Botschafter in Serbien Christopher Hill veröffentlichte vor einigen Tagen (als über meinen Besuch mitgeteilt wurde) einen großen Artikel unter dem Titel „Es gibt keinen dritten Weg – Ost oder West“, wo er gerade mit diesen Ausdrücken und in dieser Logik über die Aussichten der Beziehungen Serbiens zu den USA, der EU und der Russischen Föderation überlegte.
Selbst unerfahrenen Beobachtern wird klar, dass es in Brüssel keinen Platz nicht nur für souveräne Gleichheit der Staaten, die in der UN-Charta festgelegt ist, sondern auch für berüchtigte Freiheit der Wahl, von der Brüssel ständig spricht, gibt.
Während unserer vorjährigen Diskussionen schlugen wir den Amerikanern und Mitgliedern der Nato vor, einen Vertrag über europäische Sicherheit abzuschließen. Uns wurde gesagt, dass die Nato keine Prinzipien der Unteilbarkeit der Sicherheit, darunter die Unzulässigkeit der Festigung der eigenen Sicherheit auf Kosten der anderen, annehmen wird. Es wird nur das Prinzip der Freiheit der Wahl der Partner angenommen. Nun wurde auch dieses Prinzip, das der Westen in den Fokus trieb, von ihm selbst mit Füßen getreten.
Aus der Sicht des Westens soll Serbien keine Freiheit der Wahl der Partner haben. Dieser Zynismus verwundert uns kaum. Der Westen gibt eindeutig zu verstehen, dass er zum Druck greifen wird, ohne auf geringwertige Mittel zu verzichten.
Solche Heuchelei wurde uns mehrmals gezeigt, darunter die Periode der tragischen Bombenangriffe auf Jugoslawien durch jene, die an ihren Sieg im „Kalten Krieg“ und das Recht glaubten, die Welt ausschließlich nach dem eigenen Muster aufzubauen. Gerade diese Mentalität zeigte sich in dem Ereignis, das wir jetzt besprechen.
Ich weiß, dass es viele Erklärungen geben wird (bislang haben wir sie nicht gehört). Die Länder, die den Durchflug des russischen Flugzeugs verweigerten, werden sagen, dass es ihnen von der EU und der Nato befohlen wurde. Sie werden ihrerseits sagen, dass diese Staaten einen selbstständigen Beschluss trafen. Sie kennen das sehr gut. Das Wichtigste besteht nicht darin, sondern darin, dass niemand es schaffen wird, unsere Beziehungen zu Serbien zu zerstören.
Es waren wichtige, rechtszeitige Treffen mit Präsident Aleksandar Vucic, Außenminister Nikola Selakovic, Parlamentsvorsitzenden Ivica Dacic, dem Geistlichen der Serbischen Orthodoxen Kirche geplant. Es war ziemlich nützlich. In allen anderen Kanälen verschwinden diese Kontakte nicht. Wir luden Nikola Selakovic zu einem Besuch nach Russland ein. Ich hoffe, dass das Flugzeug (Linienflugzeug oder Sonderflugzeug) nicht einer weiteren beschämenden „Bestrafung“ seitens Brüssels und seiner „Kunden“ ausgesetzt wird.
Es war geplant, eine breite Tagesordnung zu erörtern. Man wolle über die sich schnell entwickelnde strategische Partnerschaft in bilateralen Beziehungen, internationale Angelegenheiten sprechen. Anscheinend wollten die Brüsseler Marionetten-Zieher es wieder nicht, uns eine Plattform zu bieten, damit wir in der Hauptstadt Serbiens die russische Position zu den Problemen des Kosovo, Bosnien und Herzegowina bestätigen. Sie wollten nicht, dass wir Unterstützung für die Initiative Belgrads bei der Umsetzung des Projekts „Offener Balkan“ im Interesse der Genesung und Festigung der Beziehungen zwischen allen Ländern dieser Region zum Ausdruck bringen.
Nun ist es für uns offensichtlich: Brüssel (Nato und EU) will den Balkan in ihr Projekt unter dem Namen „Geschlossener Balkan“ verwandeln. Andere Schlussfolgerungen kann man kaum vor dem Hintergrund davon, was wir jetzt beobachten, ziehen.
Frage: Welche Maßnahmen werden unternommen, damit dieses Treffen zustande kommt? Sie haben gesagt, dass drei Länder den Luftraum gesperrt haben – ein präzedenzloser Schritt. Besteht die Gefahr, dass es jetzt zu einer Norm wird? Wird für den Flug der Minister der Luftraum gesperrt, um diese Länder abzugrenzen?
Sergej Lawrow: Es wurde schon eine Norm für die Europäische Union und die Nato. Ich führte das Beispiel der „Geräuscheffekte“ an, mit denen dieser Beschuss begleitet wurde. Sie waren im Westen in den Medien, in Auftritten einzelner Politiker zu hören.
Dort fürchtet man immer mehr die Wahrheit, versucht, in eine ausgedachte, Fake-Realität zu gehen, mit der Bildschirme, Soziale Netzwerke und jede Informationsressourcen gefüllt werden. Sie blockierten auf eigene Initiative vollständig alle alternativen Medien. Sie wollen die Wahlaufgabe via Verdummung ihres Wählers lösen. Wenn solche Wahl getroffen wurde (es bestehen keine Zweifel, dass sie gerade darin besteht), beschloss Brüssel, dass es über das Schicksal aller Länder Europas entscheiden wird.
Das zeigt erneut, was in der Tat der Status wert ist, den EU-Beitrittskandidaten anstreben. Es wurde mehrmals gesagt (darunter vom kriegslüsternen Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell, der die Lösung der Ukraine-Situation ausschließlich auf dem „Kampffeld“ fordert, um „Russland zu besiegen“), dass Kandidaten bereits auf der Etappe der Vorbereitung auf die Mitgliedschaft, der EU-Politik im Bereich Sicherheit und Verteidigung vollständig und widerspruchslos folgen sollen. Wie alle gut wissen, ist sie äußerst antirussisch. Das ist eben die Antwort, was die Länder erwartet, die versuchen, ein Gleichgewicht der Interessen im Kontext der Aufrechterhaltung und Entwicklung ihrer Beziehungen zur EU und den EU-Mitgliedsstaaten zu finden versuchen.
Wir wissen die mutige Position Serbiens in diesem Zusammenhang zu schätzen. Präsident Aleksandar Vucic betont, dass er sich nicht mit antirussischer Tätigkeit befassen wird. Und die EU will gerade das: Alle Kandidaten sollen russophobe Verpflichtungen übernehmen.
Die Situation zeigte, was die Mitgliedschaft Montenegros und Nordmazedoniens in der Nato wert ist und wozu die Nato solche Länder braucht – nur um Russland zu „bestrafen“, ein antirussisches Aufmarschgebiet in Europa zu erweitern, Bedrohungen und Abschreckungsmechanismen zu schaffen. Das ist gar nicht das, was Artikel 10 des Washingtoner Vertrags über die Schaffung der Organisation erfordert. Ihm zufolge sollen neue Mitglieder den Kriterien entsprechen und, was am wichtigsten ist, der Allianz den Mehrwert aus der Sicht der Festigung der Sicherheit aller Teilnehmer bringen.
Welche Sicherheit und wie haben Montenegro und Nordmazedonien gefestigt? Doch sie meisterten ihre Rolle als Instrument zur Abschreckung Russlands, Helfer von „großen Onkeln“. Diese Länder tun mir leid. Das ist zwei mit uns befreundete Völker. Dort gibt es schöne Natur und Geschichte, die sie ehren, unsere Beziehungen in der Vergangenheit zu schätzen wissen. Doch die jetzigen politischen Realien setzten diese Länder und Völker in eine kaum beneidenswerte Lage.
Zu den Antworten: Wir werden nie etwas unternehmen, was die Verbindungen zwischen Völkern noch mehr erschweren wird. Damit befassen sich unsere westlichen Partner. Sie haben Probleme bei sich zuhause nicht nur weil sie die sozialwirtschaftliche Situation in eine ernsthafte Sackgasse treiben, sondern auch weil immer mehr vernünftige Menschen in Europa sich die Frage stellen: Wozu muss aus Russland Feind gemacht werden? Immer mehr Menschen erinnern sich daran, wie wir zusammen mit vielen europäischen Ländern große, stolze und ehrenvolle Geschichte machten.
Was die Geschichte betrifft, möchte ich zum nicht stattgefundenen Serbien-Besuch zurückkommen. Es war unter anderem eine feierliche Zeremonie des Besuchs des Ewigen Feuers zum Gedenken an die Befreier von Belgrad geplant. Es hätte eine Eintragung im Buch der Ehrengäste geben sollen. Ich hatte vor, den folgenden Text dazu zu schreiben. Ich würde ihn jetzt an das serbische Volk übermitteln.
„Wir werden dem Gedenken sowjetischer und jugoslawischer Kämpfer, die im Kampf gegen Faschismus fielen, verdient sein. Serbien und Russland sind solidarisch bei den Anstrengungen zur Aufrechterhaltung der Wahrheit über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Wir werden es nicht ermöglichen, den Nazismus wiederzubeleben“.
Bitte das als meine Botschaft an alle jene, die dieses prachtvolle Monument in Belgrad besuchen, bezeichnen.
Frage (übersetzt aus dem Serbischen): Können Sie bitte sagen, wie es dazu kam, dass Ihnen die Möglichkeit entnommen wurde, zu einem Besuch nach Serbien zu kommen, wobei der Durchflug Ihres Flugzeugs im Luftraum von drei Ländern verboten wurde? Was war der Grund? Bedeutet das, dass Sie Hindernisse auf einer anderen Route der Mitgliedsländer der EU und Nato bekommen werden? Oder betrifft das nur den Serbien-Besuch?
Sergej Lawrow: Ich werde nicht über andere Routen der Mitgliedsstaaten der EU und Nato rätseln. Zu diesem Zeitpunkt haben wir keine Pläne der Kommunikation. Es gibt keine Einladungen von Nato-Mitgliedsstaaten. Ich erwarte auch niemanden in Moskau.
Was Gründe angeht, wurden sie bereits vor einigen Tagen in der serbischen, kroatischen Presse und anderen Westbalkan-Ländern besprochen. Es gab so eine Version, dass Sergej Lawrow jetzt in Serbien einer der unerwünschten Gäste sei, weil er beschlossen habe, dem Bundeskanzler Deutschlands, Olaf Scholz, zuvorzukommen, der in einigen Tagen auf den Balkan kommen soll. Der deutsche Bundeskanzler war angeblich unzufrieden und sogar gekränkt, dass sich Serbien zu solchem nach seiner Ansicht unhöflichen Schritt entschlossen hat. Ich lasse das auf dem Gewissen der Analysten, die solche Sachen scheiben. Ich denke, dass es erniedrigend nicht nur für Menschen, die sie beschreiben und deren Reaktion sie vorherzusagen versuchen, sondern auch vor allem für Medien selbst, die mit solchen „Übungen“ zusätzliche Leser bzw. Zuschauer finden wollen, ist.
Frage (übersetzt aus dem Serbischen): Angesichts der Tatsache, dass Serbien seit Beginn des Konfliktes in der Ukraine dem Druck auf beiden Seiten wegen der Ereignisse, mit denen sie keinen Zusammenhang hat, ausgesetzt wird, wird Russland im Unterschied von einzelnen westlichen Ländern mehr Verständnis für nationale Interessen und Position Serbiens haben?
Sergej Lawrow: Meine Antwort lautet – natürlich ja. Wir sehen, inwieweit furioso der Westen auf die Entwicklung in der Ukraine reagiert. Das beweist unsere Richtigkeit, die wir der ganzen Welt vorlegten, indem erklärt wurde, warum die militärische Sonderoperation begann und viele Jahre unserer Bemühungen zur Vorbeugung der Bedrohungen nicht Dutzende Tausend Kilometer von der Russischen Föderation, sondern direkt an unseren Grenzen retrospektiv gezeigt wurden. Die USA halten sich für berechtigt, „heute“ zu sagen, dass Belgrad für sie eine Bedrohung darstelle (für die globale bzw. europäische Sicherheit), und „morgen“ mit Bombenangriffen auf Belgrad beginnen. Dann beschließen sie nach weiteren ein Paar Jahren, dass noch ein Land, das ebenfalls Dutzende Tausend Kilometer von den USA entfernt ist – der Irak – eine Bedrohung darstellt, es werden Städte ausradiert, hunderte Tausend Zivilisten getötet. Dann wird beschlossen, dass das über dem Atlantischen Ozean liegende Libyen ebenfalls eine Bedrohung darstellt und es vernichtet werden soll.
Wir machten lange Zeit Erklärungen über die Unzulässigkeit der Erweiterung der Nato, der Unterstützung des Staatsstreichs in der Ukraine, Sabotage durch Pjotr Poroschenko und Wladimir Selenski der mit so viel Mühe erreichten Minsker Vereinbarungen. Alle diesen Warnungen wurden ignoriert. Russische Menschen wurden in der Ukraine weiterhin diskriminiert, es wurden Gesetze über das Verbot der russischen Sprache verabschiedet, es wurden nazistische Regeln (Theorie und Praxis des Nazismus) aufgedrängt. Der Westen machte Applaus für das alles, wobei dieser Prozess der ganzen Welt als Errungenschaft der wahren Demokratie präsentiert wurde, es wurden weiterhin neonazistische Streitkräfte der Ukraine bei ihrem täglichen Beschuss der friedlichen Einwohner und zivilen Infrastruktur im Donbass unterstützt. Wir hatten keine andere Wahl.
Ich habe über das alles ausführlich gesagt. Jetzt erinnere ich daran. Doch der Kurs Brüssels auf dem Balkan und in der Ukraine ist gleich. Auf dem Balkan unterstützt die EU jene, die die Interessen der Serben beeinträchtigen, und in der Ukraine unterstützen die Nato und die EU das Regime, das seit langem den Krieg gegen alles Russische erklärte. Eine interessante Beobachtung. Ich erwähnte sie in meinem Interview für die Medien Bosnien-Herzegowinas. Sie besteht in den Vermittlungsbemühungen der EU. Auf dem Balkan begann nach der einseitigen Erklärung der Unabhängigkeit des Kosovo, ohne Referendum, irgendein Prozess. Die EU wurde von der UN-Generalversammlung zur Vermittlung zwischen Pristina und Belgrad eingeladen, das wurde ziemlich erfolgreich gemacht: 2013 wurde eine Vereinbarung über die Schaffung einer Gemeinschaft serbischer Munizipalitäten des Kosovo erreicht. Im Jahr 2014, nach dem Staatsstreich und Beginn der Operation der „antiterroristischen Kräfte“ in der Ukraine gegen Donezbecken und die Russen, übernahm die EU ebenfalls die Vermittlerrolle, und alles endete mit der Unterzeichnung der Minsker Abkommen, die gewisse Regel festlegten, wie es auch in Bezug der serbischen Munizipalitäten des Kosovo der Fall war.
Die EU versprach feierlich die Unterstützung des Sonderstatuses von Nordkosovo und des Ostens der Ukraine. Der Status bestand nicht in schweren Sachen: Den Menschen erlauben, in ihrer Muttersprache zu sprechen (den Serben – in der serbischen Sprache, den Russen in der Ukraine – in der russischen Sprache), Kinder in Schulen in ihrer Muttersprache lernen, diese Sprache im Alltag nutzen und eine gewisse Autonomie bei Fragen der Rechtsschutztätigkeit, Wirtschaftsverbindungen mit den benachbarten Regionen (im Falle Kosovo – Serbien, in der Ostukraine - Russland) haben. Es entstanden identische Vereinbarungen, die auf den Respekt der nationalen Minderheiten in vollständiger Übereinstimmung mit internationalen europäischen Übereinkommen über die Rechte solcher Gruppen gerichtet waren. In beiden Fällen erklärte die EU, Erfolg erreicht zu haben. In beiden Fällen scheiterte die EU beschämend und musste das später zugeben, als gesagt wurde, dass sie Kiew nicht dazu bewegen könne, die Minsker Abkommen zu erfüllen, und Pristina – die mit Belgrad abgeschlossenen Vereinbarungen zu erfüllen. Hier ist etwas Gemeinsames zu erkennen – wie die EU verschiedene Regionen unseres gemeinsamen geopolitischen Raums betrachtet, welche Ziele sie verfolgt und wie sie verhandlungs- und handlungsfähig ist.
Frage: Welche Rolle kann Ihres Erachtens die Türkei bei der Frage Normalisierung der Situation um die Ukraine spielen, zumal beansprucht sie solche „Vermittlerplattform“? Inwieweit ist das Format aussichtsreich, das zunächst mit der ukrainischen Seite sich bildete und später von der Ukraine selbst torpediert wurde? Wie ist Ihre Einschätzung der Position Ankaras in Bezug auf einen möglichen Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato?
Sergej Lawrow: Die letzte Frage werde ich sogar nicht kommentieren. Das ist die souveräne Angelegenheit Ankaras sowie jedes anderen Landes, das zu gewissen Allianzen, Bündnissen, Organisationen gehört. Ich habe irgendwo gehört, dass einige aktive Mitglieder der EU aus dem Baltikum bei der Besprechung des sechsten Sanktionspakets gegen Russland forderten, Ungarn das Stimmrecht wegzunehmen, weil es die Konsensregel missbraucht. Doch das ist eine paradoxale Behauptung. Der Konsens bedeutet nur eines – alle sind „dafür“. Wenn nur Einer „dagegen“ ist, ist es kein Konsens. Ich lasse das abseits, mögen die Nato-Vertreter das dort selbst klären. Ich hatte bereits die Möglichkeit, zu kommentieren. Mal sehen, wie dieser Prozess verlaufen wird. Uns kann nur eine Sache betreffen, ob der Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato direkte, physische und materielle Bedrohungen für unsere Sicherheit schaffen werden. Das es politisch die Situation nicht besser machen wird, ist meines Erachtens für jeden vernünftigen Politiker klar.
Was den militärischen Aspekt der Sache betrifft, werden wir sehen, womit das begleitet wird.
Zur Rolle der Türkei. Ja, sie hat eigene Position, die sie nicht verheimlicht. Wir haben bei weitem nicht in allen Sachen gleiche Positionen. Wir haben auch ziemlich ernsthafte Auseinandersetzungen zu einer ganzen Reihe der Aspekte der Situation in der Region. Wie unser Zusammenwirken in Syrien und später in der Libyen-Krise zeigte, respektieren unsere Präsidenten bei einer klaren Darlegung ihrer Herangehensweisen die Positionen voneinander. Statt die Fragen, bei denen die Positionen auseinandergehen, zum Gegenstand der Kontroversen zu machen, wird versucht, die Besorgnisse zu berücksichtigen: Moskau – die von Ankara, Ankara – die von Moskau. In diesem Sinne fand vor kurzem ein Telefongespräch über die Probleme statt, die in den letzten zwei Jahren vom Westen im Bereich Lebensmittelsicherheit entstanden und sich wegen unvernünftigen Sanktionen, die vom Westen eingeführt wurden, der plötzlich dann überlegt, wie sie sich auf die Lebensmittellieferungen in verschiedene Länder der Welt auswirken werden, zuspitzten.
Ja, wir haben mit der Türkei das Interesse an der Lösung dieser Probleme. Russlands Präsident Wladimir Putin legte in seinem jüngsten Interview ausführlich dar, wie man die Lebensmittellieferungen aus Schwarzmeerhäfen, die von Ukrainern vermint wurden, aus den Häfen des Asowschen Meeres, die von der Russischen Föderation kontrolliert, entmint werden, deblockiert werden kann. Es gibt zuverlässige Routen über die Straße von Kertsch zum Bosporus und Dardanellen. Experten begeben sich schon heute in die Türkei. Morgen kommt dorthin meine Delegation. Ich hoffe, dass wir nicht den Endpunkt stellen (das sollen unsere Leiter machen), sondern die Varianten ausführlich ausarbeiten können, über die Russlands Präsident Wladimir Putin sprach. Sie hängen ausschließlich von jenen ab, die mit der Ukraine arbeiten, sie dazu verpflichten sollen, eigene Häfen zu deblockieren, und jene, die jede Hindernisse für die Lieferung, Versicherung, Bedienung von Schiffen, die Getreide und andere Lebensmittel in die Häfen Europas und von dort aus in die Häfen der Entwicklungsländer liefern werden, aufheben sollen.
Frage: Großbritannien sagte, dass es der Ukraine Mehrfachraketenwerfer übergeben werde, um bei der Verteidigung von den russischen Truppen zu helfen. Die USA machen dasselbe. Sie nannten es einen riskanten Weg. Doch hätte Russland die Ukraine nicht angegriffen und es die russische Invasion nicht gegeben hätte, hätte es auch keine Übergabe von Mehrfachraketenwerfern gegeben. Stimmt das?
Sergej Lawrow: Ich würde sogar nicht versuchen, sich an Stelle der USA oder Großbritanniens zu stellen. Sie wollen nicht unsere Argumente hören. Es handelt sich doch nicht darum – hätte man nicht angegriffen, hätten sie etwas nicht gemacht. Es handelt sich darum, dass sie (Briten) und Amerikaner, alle andere Nato-Mitgliedsstaaten im Laufe von 20 Jahren dazu aufgerufen wurden, was 1999 von allen unterzeichnet wurde – niemand wird die eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit der Anderen festigen. Warum können sie das nicht machen? Weil das, was Ihr Premierminister, Präsidenten und Premierminister aller anderen OSZE-Länder unterzeichneten, sich als Lüge erwies? Stattdessen sagen sie, dass man die Nato in Ruhe lassen soll, es nicht unsere Angelegenheit sei – man werde jene aufnehmen, die man will. Als der Warschauer Vertrag und die Sowjetunion verschwanden, von wen verteidigten sie sich? Es wurde fünfmal entschieden, wo die Verteidigungslinien sind. Was ist das? Das ist schon Größenwahn.
Jetzt sagt Jens Stoltenberg, dass man die Verantwortung der Nato in der Indopazifischen Region global sichern soll. Das bedeutet, dass die nächste Verteidigungslinie im Südchinesischen Meer sein wird. Wenn man die Situation betrachtet, wird absolut klar – sie hielten sich für berechtigt, im Laufe von all diesen Jahren Willkür weit weg von eigenen Grenzen zu treiben. Ich verstehe, dass es nostalgisch ist. Ich verstehe, dass es nostalgisch um British Empire geht, sie haben da weit weg gelassenen „Samen“. Sie haben solche Nostalgie. Es werden die über dem Ozean von den USA entfernte Gebiete erklärt, wo es angeblich eine Bedrohung für Washington gibt, und sie werden ausradiert – mal irakisches Mossul, mal syrisches Rakka, mal Belgrad. In Libyen geht auch Willkür vor sich, die Staaten sind zerstört.
Stellen sie sich kurz vor, hätte in Ihrem Nachbarland Irland, das die Hälfte der entsprechenden Insel einnimmt, die englische Sprache aufgehoben worden, oder in Belgien die französische Sprache, in der Schweiz – französische, deutsche oder italienische Sprache. Wie hätte Europa darauf reagiert? Ich würde diesen Gedanken sogar nicht weiter entwickeln. Europa reagierte ruhig darauf, wie die russische Sprache verboten wurde. Das geschah in der Ukraine. Bildung, Medien, tägliche Kommunikation – das alles wurde verboten. Dabei wurden Russen im Laufe von acht Jahren durch das Regime, das Nazismus offen vertrat und glorifizierte, bombardiert.
Ich verstehe, dass sie in die Köpfe des Publikums ihre „Wahrheit“ stecken sollen: „Hätten Sie nicht angegriffen, hätten wir keine Mehrfachraketenwehrwerfer geliefert“. Wladimir Putin kommentierte die Situation, die sich wegen der Lieferung neuer Waffen bilden wird. Ich kann nur hinzufügen – je weitreichender die gelieferten Waffen sein werden, desto weiter werden wir von unserem Territorium die Linie verschieben, hinter der Neonazis die Russische Föderation bedrohen können.
Frage: Russland forderte während der Verhandlungen mit der Ukraine im März dieses Jahres, dass Kiew die Unabhängigkeit von Donezbecken und Zugehörigkeit der Krim zu Russland anerkennen soll. Will Russland nun von Kiew zusätzlich fordern, die Unabhängigkeit des Gebiets Cherson und eines Teils des Gebiets Saporoschje, die jetzt von russischen Kräften kontrolliert werden, und ihren Beitritt zu Russland anzuerkennen?
Sergej Lawrow: Auf diese Frage antworten Menschen, die in den befreiten Gebieten wohnen. Sie sagen, dass sie selbst ihre Zukunft wählen wollen. Wir respektieren in vollem Maße solche Position.
In Bezug auf erklärte Aufgaben würde ich nochmals sagen. Der Westen beschloss, Waffen zu liefern, die nicht nur Grenzgebiete, sondern auch mehr entfernte Gebiete der Russischen Föderation erreichen können. In der Ukraine selbst lachen Politiker und Abgeordneten über Amerikaner, die sagten, dass sie an Wladimir Selenski glauben – er habe wohl versprochen, nicht auf Russland zu schießen. Wenn dies seitens der USA und ihrer Satelliten Reaktion auf die Situation ist, betone ich nochmals – je weitreichender die Systeme sein werden, die an das Kiewer Regime geliefert werden, desto weiter werden wir Neonazis von der Linie verschieben, von wo die Drohungen für die russische Bevölkerung der Ukraine und die Russische Föderation ausgehen.
Frage: Wir sind die Erwartungen von Ihrem kommenden Besuch in Ankara? Wird ein konkreter Mechanismus über Getreide-Frage ausgerufen? Wird die Frage der Fortsetzung der russisch-ukrainischen Verhandlungen in Istanbul besprochen?
Sergej Lawrow: Ich habe diese Frage schon beantwortet. Die Thematik der Verhandlungen wurde während des Telefongesprächs zwischen den Präsidenten Russlands und der Türkei praktisch dargelegt.
Präsident Wladimir Putin legte im jüngsten Interview optimale Varianten für die Ausfuhr von Getreide detailliert dar. Alles, was von uns abhängt, machen wir schon lange. Seit mehr als einem Monat erklären russische Militärs im Schwarzen und Asowschen Meer humanitäre Korridore für die Ausfahrt ausländischer Schiffe, die dort de facto von ukrainischen Behörden als Geisel festgehalten werden. Damit Schiffe diese Korridore nutzen können, sollen die Ukrainer sie entminen. Unsere türkischen Kollegen erklärten die Bereitschaft, dabei zu helfen. Ich denke, dass unsere Militärs sich einigen werden, wie man das besser organisieren soll, damit Schiffe über Minenfelder, die man beseitigen soll, ins offene Meer gehen. Weiter werden wir garantieren – selbstständig oder mit türkischen Kollegen – dass sie bis zu Meeresstraßen und weiter ins Mittelmeer begleitet werden.
Das Konzept ist äußerst klar. Wir sprechen seit langem darüber. Es werden Versuche unternommen, die Situation so darzustellen, als ob Russland etwas nicht will, als ob man eine Organisation wie UNO heranziehen oder Resolution des UN-Sicherheitsrats verabschieden soll. Wir kennen das alles schon. Alle, die sich zumindest mehr oder weniger ernsthaft zur Aufgabe der Ausfuhr von Getreide aus ukrainischen Häfen verhalten, wissen sehr gut, dass man dazu nur Eines machen soll – Wladimir Selenski befehlen, die Häfen entminen zu lassen und sich nicht mehr hinter Erklärungen zu verstecken, dass Russland das nutzen werde. Präsident Wladimir Putin sagte, dass man es nicht vor hat, das zu nutzen, und man bereit ist, dieses Problem fair zu lösen. Ich betone, dass wir seit langem alles machen, was von uns abhängt.
Frage: Immer mehr Länder versuchen, sich den Versuchen anzuschließen, Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Kiew vor dem Hintergrund der andauernden Militäroperation Russlands in der Ukraine sowie deswegen entstandenen Schwierigkeiten zu lösen. Welche der vorgeschlagenen Varianten der Vermittlung betrachtet Moskau derzeit als realistisch und annehmbar?
Sergej Lawrow: Am realistischsten waren Vorschläge ohne jegliche Vermittlung, die am 29. März dieses Jahres auf dem Treffen der russischen und ukrainischen Delegationen in Istanbul aufgebracht wurden. Sie wurden von der ukrainischen Seite eingereicht. Wir nahmen sie sofort als Grundlage. Dann wich die ukrainische Seite selbst oder mit Hinweis Washingtons, Londons oder Brüssels von diesen Vorschlägen ab. Westlichen Analysten zufolge ist die „Vermittlung“ unmöglich, die Ukraine fordert ausschließlich, die Situation zur Lage auf dem Boden nach dem Stand 24. Februar dieses Jahres zurückzubringen. Jeden Tag werden ganz verschiedene Phantasien, die oft einander widersprechen, zum Ausdruck gebracht.
Die Ukraine will nicht Verhandlungen führen. Sie verzichtete darauf. Wir haben Gründe zu denken, dass Kiew damit den Willen der angelsächsischen Führung der westlichen Welt erfüllt. Wir waren bereit, auf Grundlage der Vorschläge der ukrainischen Kollegen fair zu arbeiten. Bislang bleibt der auf Grundlage dieser Vorschläge ausgearbeitete Entwurf des Vertrags auf der ukrainischen Seite seit fast anderthalb Monaten „ohne Bewegung“.
Frage: Was die Provokation Bulgariens, Nordmazedoniens und Montenegros betrifft, wurde diese Position Ihres Erachtens mit Brüssel oder gleich mit Washington abgestimmt? Oder ist es der Wunsch dieser Länder, Washington und Brüssel zu dienen? Ist Europa nun für unsere Diplomatie überhaupt geschlossen?
Sergej Lawrow: Was dahinter steht (Befehl oder der Wunsch zu dienen), das weiß ich nicht, aber sie haben es genau gesagt. Ich denke, dass es eine Kombination der beiden Sachen ist. Vielleicht wurde ihnen schon lange her befohlen, keine Schritte abseits des Kurses auf Abschreckung Russlands zu machen, weshalb der Wunsch auftauchte, zu dienen. Vielleicht wurde es gestern befohlen. Wir wissen es nicht.
Wir haben bislang diplomatische Beziehungen zur Mehrheit der westlichen Länder, darunter alle unfreundlichen Staaten. Dabei betonte ich die wichtigste geopolitische Schlussfolgerung aus dieser Situation: Es ist nicht mehr möglich, etwas mit Europa zu vereinbaren und sicher zu sein, dass Europa das erfüllen wird. Wenn diese Willkür zu Ende geht und Europa zu sich kommt, werden wir sehen, wie sie unsere weiteren Verbindungen sehen werden. Wir haben nicht vor, sich aufzudrängen. Was sie uns vorschlagen werden – das werden wir natürlich erörtern. Wenn das unseren Interessen nicht widersprechen wird, werden wir bereit sein, unsere Kontakte wiederaufzunehmen.